Viele Pflanzen müssen nicht viel Arbeit machen. Kräuter-Papst Remo Vetter erklärt, wie man im Kräutergarten die Entschleunigung entdecken kann.
Zwischen saftig grünen Hügeln liegt das Dorf Weissbad – nur ein paar Kilometer vom Kantonshauptort Appenzell entfernt. Weitab von der Hektik des Alltags und dem Verkehr der Stadt herrscht hier eine magische Ruhe. Und es duftet natürlich nach Kräutern, dafür ist das Appenzellerland berühmt. Im Kräutergarten des Hotels Hof Weissbad ist Remo Vetter (65) in seinem Element. Der als «The Lazy Gardener» bekannte Gartenexperte wohnt mit seiner Frau Frances (59) schon lange in dieser Gegend. «The Lazy Gardener» bedeutet: der faule Gärtner. Aber wer jetzt meint, dass er einfach in der Hängematte liegt, während sie die ganze Arbeit macht, der irrt. Die beiden arbeiten Hand in Hand und sind sehr aktiv.
Müssiggang mit System
Remo Vetter hat eine Art des Gärtnerns entwickelt, die auf regelmässigen, kurzen Arbeiten beruht. Dazwischen hat man viel Zeit, um sich dem gesunden Nichtstun hinzugeben. «Ich beobachte die Natur und greife so wenig wie möglich ein. Ich handle wirklich erst, wenn sie sich nicht mehr selbst zu helfen weiss.» Denn: «Die Natur braucht den Menschen nicht, sie reguliert sich selbst.» Wer den Garten täglich kurz pflegt, kann damit vieles verhindern, was sonst viel Aufwand bedeuten würde. Zum Beispiel Unkraut. «Morgens mit der Pendelhacke ein wenig häckseln genügt», erklärt Remo Vetter. «Und es wächst gar nicht erst.» Natürlich gibt es auch in einem Vetter’schen Garten mehr zu tun als nur häckseln. Doch der Kräuterexperte erledigt es bewusst als Aus-zeit vom Alltag. «Der Garten ist für mich und meine Frau ein Rückzugsort», erklärt er. «Dort können wir frei sein, Freunde einladen, die Natur ganz nahe erleben.»
Ein riesiger Kräutergarten
Ihr grosses Wissen zum Thema Garten geben die Vetters gerne weiter. In Kursen und Büchern genauso wie als Berater und Gestalter. Auch das Direktionspaar des Hotels Hof Weissbad hat die beiden engagiert. Damaris (55) und Christian (62) Lienhard gehören zu den erfolgreichsten Hoteliers der Schweiz, unter anderem wegen ihrer kreativen Ideen. Und sie wünschten sich einen 1000 Quadratmeter grossen Kräutergarten. Natürlich für das Restaurant des Wellness- und Seminarhotels mit 16 Gault-Millau-Punkten. Doch die wunderschöne Anlage ist auch ein Lieblingsort der Gäste. Hier wachsen die Pflanzen ganz natürlich und Käthi Fässler (55), Gault-Millau-Köchin des Jahres 2009, zaubert daraus herrliche Geschmackserlebnisse. Im Garten des Hotels gibt es auch die Hügelbeete, auf die Remo Vetter schwört. Sie speichern viel Wärme dank eines Kerns aus grobem Material wie Gartenrückständen, Laub und Kräutern. So gedeihen auf 800 Meter Höhe in Weissbad Arten, die sonst lieber im Süden wachsen. Die Vetters gärtnern ausschliesslich biologisch und nachhaltig.
Die Beete im Kräutergarten sind mit einheimischem Lärchenholz eingefasst und die Wege mit Rindenholzschnitzeln bedeckt, es macht ein sauberes Arbeiten möglich. Das ist einer der Tricks des «Lazy Gardeners». Der Häcksel unterdrückt das Unkraut und hält gleichzeitig die Schnecken fern, denn diese mögen keine rauen und trockenen Oberflächen. Die klare Abgrenzung der Beete und die Holzschnitzel verhindern ebenfalls, dass die Gäste schmutzige Schuhe bekommen. Und so trifft man auch Remo Vetter oft in heller Kleidung mit Panama Hut und seinem Lieblingsgerät im Garten, der Pendelhacke, mit der er die Beete durchkratzt.
Seine Gartenphilosophie setzt auf Flow statt harter Arbeit, auf den Genuss des Lebens und den Respekt vor der Natur. Flow bedeutet auf Englisch fliessen und umschreibt ein Gefühl, das sich bei einer konzentriert ausgeführten Tätigkeit einstellt. Wer diese Art von Gärtnern selbst ausprobieren will, sollte laut Vetter nicht zu gross anfangen. Ein Kräutergarten ist dafür ideal. Der Experte empfiehlt überhaupt allen Menschen, einen Kräutergarten anzulegen. Natürlich wegen des frischen Geschmacks. «Aber auch, weil es einfach wunderbar ist, vor dem Essen die Kräuter zu pflücken, um damit zu kochen.»
Das funktioniert natürlich auch auf dem Balkon. «Und sogar auf einer Fensterbank.» Beim Gärtnern in Töpfen sei es wichtig, so Remo Vetter, regelmässig zu kontrollieren, ob die Pflanzen genug Wasser haben. «Denn die Erde in Töpfen trocknet schneller aus.» Ein weiterer Tipp: «Setzen oder säen Sie die Kräuter nicht zu eng beieinander in einem Topf, sie brauchen Platz, um sich zu entwickeln.»
Genauso wichtig ist die Vorbereitung der Gefässe: «Damit sich keine Staunässe bildet, braucht man eine Drainageschicht.» Dafür bohrt Vetter mit dem Steinbohrer zusätzliche Löcher in die Töpfe und füllt diese etwa zu einem Drittel mit Kies, Astmaterial oder Tonscherben. Erst dann kommt die Erde. «So fliesst überschüssiges Wasser besser ab.» Zwischen Drainageschicht und Erde setzt er noch ein gut durchlässiges, dünnes Vlies. «Blumenerde eignet sich gut für Kräuter, man kann sie mit etwas Sand anreichern.»
Die meisten Kräuter sind sogenannte Schwachzehrer. Das heisst, sie müssen nicht zu oft gedüngt werden. Pflanzen in Töpfen brauchen jedoch mehr Dünger als ihre Artgenossen im «freien» Boden. Als Pflanzennahrung verwendet Remo Vetter Brennnesseln und Beinwell, das tut dem Boden gut. «Das erste Immunsystem ist die Erde. Ein gesunder und lebendiger Boden ist die Quelle der Fruchtbarkeit. Auf einem gesunden Boden wachsen gesunde Pflanzen für gesunde Menschen.» Sein Rezept für einen Schnelldünger: Brennnesseln und Beinwell im Verhältnis 1:10 (also ein Kilo Frischpflanze auf zehn Liter Wasser) 24 bis 48 Stunden im Giesswasser ansetzen. Kräuter und Blumen damit unverdünnt giessen.
Lieblingskräuter
Welche Kräuter man pflanzen möchte, richtet sich natürlich nach dem eigenen Geschmack. Wenn zwei Pflanzen sich den Topf teilen, sollte man darauf achten, dass sie ähnliche Bedürfnisse haben. «Zwei Kräuter, die nicht nahe beieinander gesetzt werden sollten, sind Schnittlauch und Petersilie», sagt Remo Vetter. Die Petersilie fühlt sich überhaupt am wohlsten alleine. Wer auf Nummer sichergehen will, gibt jedem Kraut einen eigenen Topf. «Das ist praktisch, weil man so jede Pflanze an einen Ort setzen kann, der ihren Bedürfnissen entspricht. Ausserdem wuchern Kräuter wie Liebstöckel und Minze stark und brauchen Platz.»
Wo ist das gute Leben?
Remo und Frances Vetter tun alles bewusst und mit Genuss. Das war von Anfang an ihr Ziel: «Das gute Leben finden!» Muss man dafür ins Appenzellerland ziehen? Natürlich! – Das würden die Appenzeller sagen. Aber vielleicht auch nicht. «Auf der Suche nach dem guten Leben, dem perfekten Ort, sind wir viel gereist – mit der Einsicht, dass es diesen Ort auf der Landkarte geografisch nicht gibt», sagt Frances Vetter. «Das gute Leben liegt nicht irgendwo in der weiten Welt, sondern im Hier und Jetzt bei uns selbst.» Und in der täglichen Arbeit im Garten. «Sie ist für uns Erholung. Wir achten die uralten Gesetze der Natur, ihre faszinierenden Heilkräfte und geniessen die kulinarischen Highlights mit den köstlichen Aromen unserer Gartenkräuter.» Das gute Leben kann man also auch mit ein paar Kräutertöpfen auf der Fensterbank finden.
Text: Katalin Vereb für Coopzeitung, Ausgabe 25, Juni 2021
Bilder: Dave Brüllmann